A. Schillig: Materielle Kultur und Familie in der Schweiz (1700–1900)

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Titel
Hausgeschichten. Materielle Kultur und Familie in der Schweiz (1700–1900)


Autor(en)
Schillig, Anne
Erschienen
Zürich 2020: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
220 S.
Preis
CHF 38,00
von
Margareth Lanzinger, Institut für Geschichte, Universität Wien

Anne Schillig nimmt im einleitenden ersten Kapitel der Studie, die auf ihrer an der Universität Luzern verfassten Dissertation basiert, zunächst eine Reihe von Positionierungen und Einordnungen vor: Sie klärt das Verhältnis zwischen Haus und Familie, fächert zahlreiche Forschungsfelder rund um das Haus auf und verbindet diese mit sozial- und kulturgeschichtlichen sowie ethnologischen Ansätzen, mit Perspektiven, die sich auf Materialität und Architektur, auf räumliche Arrangements und Objekte richten. Ziel ist, in einem überregionalen und diachronen Zugang Hausgeschichte mit Sozialgeschichte zu verbinden und den Wechselwirkungen zwischen materieller, häuslicher, sozialer und familialer Sphäre sowie dem Wandel nachzuspüren. Das Material liefern zum einen eine Auswahl von «Hausmonografien» aus der ab 1965 in insgesamt 39 Bänden erscheinenden Publikationsreihe Die Bauernhäuser in der Schweiz und zum anderen Hausgeschichten des 1978 gegründeten Freilichtmuseums Ballenberg im Berner Oberland. Damit werden nicht – wie quellenbedingt häufig in historischen Studien – nur Objekte in Texten in die Untersuchung einbezogen, sondern Objekte in ihrer konkreten Materialität. Schillig erachtet ihr Unterfangen daher als ein «methodisches Experiment» (S. 18).

Das zweite Kapitel rollt die materielle Kulturforschung seit ihren Anfängen auf: mit Rückbezügen auf Indizierungen, Sammlungen, Museen und immer auch auf den Umgang mit Häusern entlang von unterschiedlichen Ausrichtungen und disziplinären Beeinflussungen sowie in ihrem Verhältnis zur Geschichtswissenschaft. In einem historiographischen Aufriss wird das interdisziplinäre Feld ausgehend von Fachzeitschriften, Gruppen, Initiativen und Zentren, Strömungen und Disziplinen skizziert: Architektur und Kunstgeschichte in den USA, Archäologie und Anthropologie in Grossbritannien sowie Volkskunde und Sachkulturforschung im deutschsprachigen Raum. Diese Vorgeschichten liefern unterschiedliche Kontexte der wechselvollen Bewertung des Materiellen und des diesem beigemessenen Erkenntnispotenzials – bis Objekte ab den 1960er Jahren zunehmend eingebunden in soziale Relationen und anderen Objektkontexten gedacht wurden. Dieser Prozess bereitete den Weg für das Zusammendenken von Materiellem und Schrift sowie von Materialität und Sozialgeschichte.

Das dritte Kapitel gibt Einblick in die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichende historische Hausforschung aus unterschiedlichen regionalen und im Kontext der jeweiligen Zeit verorteten Perspektiven. Lange prägten Abgrenzungen – etwa zwischen dem Bürgerund dem Bauernhaus – und Homogenisierungen ebenso wie ideologisierende Zuordnungen, ethnisierende Typologisierungen und deskriptive Herangehensweisen das Forschungsfeld. Das bereits genannte Quellenmaterial wird hier in seine Entstehungskontexte gestellt sowie das Verhältnis zwischen Museen und Forschung beleuchtet. Deutlich später als das Interesse am Haus setzte die am Alltag orientierte Geschichte des Wohnens ein, die sich zwischen Narrativen des Wandels und der Kontinuität bewegt. Einen Überblick über Differenzierungen sowie über Grenzen und Potenziale der Bestandsaufnahmen der Schweizer Bauernhäuser gibt die Kommentierung eines breit gestreuten Sample von 50 Häusern, ausgehend von deren Räumlichkeiten, Ausstattung und Umbauten. Die entsprechenden Begehungsprotokolle sind im Tabellenanhang in Stichworten erfasst (S. 166–193).

Das vierte Kapitel ist einem Durchgang durch die Geschichte der Familie gewidmet, die in ihren zahlreichen Ausdifferenzierungen anhand einschlägiger Werke, zunächst mit einem breiteren europäischen Fokus und anschliessend auf Basis von Studien zur Schweiz, dargestellt wird. Befragt werden diese unter anderem nach ihrem Bezug – auch begriffsgeschichtlich – zum Haus und zu Wohnverhältnissen. Das allgemeinere Themenspektrum bilden der demographische Wandel, Veränderungen der Gefühlswelten, der Haushaltszusammensetzung und der Familienformen, verschiedene Modelle der Besitznachfolge und des Vererbens, Arbeitsorganisation, geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und protoindustrielle Heimarbeit.

Im fünften Kapitel folgen schliesslich «Hausgeschichten», die von fünf ihrer Herkunft nach weiträumig verteilten Objekten ausgehen. Vier davon befinden sich auf dem Ballenberg und verfügen über unveröffentlichte Hausmonografien. Diese wurden im Auftrag des Freiluftmuseums erarbeitet und nun um weitere Quellen – Inventare, Vererbungsprotokolle, Briefe und literarische Texte – ergänzt. Ein Haus ist privat und bewohnt; es fungiert gewissermassen als «Kontrollgruppe». Damit stehen das HüginHaus in Therwil (Baselland), das Corpataux-Haus in Tentlingen (Freiburg), das HulligerHaus in Brienz (Bern), das Manser-Haus in Brülisau (Appenzell Innerrhoden) und das Haus Lorenz in Filisur (Graubünden) im Zentrum des Kapitels. Ziel ist es, häusliches Leben im 18. und 19. Jahrhundert zu kontextualisieren. So wird jedes Gebäude im Ist-Zustand beschrieben, der Zusammenhang von dessen Verbringung auf den Ballenberg erwähnt sowie die Geschichte des Hauses dargestellt: wechselnde Namen, Lage, bauliche Veränderungen, verwendete Materialien, Nutzungsspuren, Hausteilungen, Käufe und Verkäufe, Heiraten, Geburten und Todesfälle, räumliche Organisation, Abfolge der Besitzer:innen, Informationen zu deren Familien, zu den Tätigkeiten im Haus und zur Präsenz anderer Bewohner:innen.

Schilligs Anliegen war es, «nicht nur über, sondern gewissermassen durch Materialität zu forschen» (S. 159). Auf dem Weg dahin hat sie sich in die Forschungsgeschichte der thematisch relevanten Bereiche eingelesen und eingearbeitet. Im Ergebnis fallen die einzelnen Kapitel jedoch etwas auseinander. Die Autorin nennt als eine der Schwierigkeiten ihrer Studie, dass es «keine normierte» oder «einheitliche Methode» gäbe «für das Lesen materieller Kultur [...] in der Geschichtswissenschaft» (S. 160). Ein zusätzliches analytisches Kapitel, das die Fäden zusammenführt, und eine klarer abgegrenzte Fragestellung – zum Beispiel nach der Organisation von Räumen, Personen und Tätigkeiten – hätten vielleicht helfen können, der durchgeackerten Forschungsliteratur eine Leserichtung zu geben, eine methodische Werkzeugkiste zu zimmern und die verschiedenen Quellen – schriftliche wie materielle – enger in Bezug zueinander zu setzen. Denn was eindrücklich aus der Untersuchung hervorgeht, ist die Dynamik und Flexibilität der Raumorganisation und -nutzung nach wechselnden Bedarfslagen der Familien, ihrer Mitglieder oder anderer Bewohne:innen ebenso wie die Bandbreite an (Pluri‐)Aktivitäten. Besonders gut sichtbar wird dabei die enge Verschränkung von Haus- und Familienbiografien.

Zitierweise:
Lanzinger, Margareth: Rezension zu: Schillig, Anne: Hausgeschichten. Materielle Kultur und Familie in der Schweiz (1700–1900), Zürich 2020. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 72 (2), 2022, S. 290-292. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00108>.